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Ein Archivar

2011

Als sie im Krankenhausbett erwacht kann sie sich an nichts mehr erinnern. Rein gar nichts. Nicht einmal ihren eigenen Namen weiß sie. Alles liegt wie hinter — ja, wo hinter? Sie hat einen Autounfall gehabt, erklärt man ihr. Jemand hat sie bewusstlos am Steuer gefunden. Mitten auf einer Landstraße. Beulen in Motorhaube und Stoßstange. Die Frontscheibe gesplittert. Wahrscheinlich ein Reh, mutmaßt man. Gefunden worden ist es nicht. Sie schläft schlecht, träumt alp. Fährt auf vagen Wegen mit dem Wagen durch Nebel. Scheinwerfers Kegel stechen im Trüben. Der Aufprall reißt sie zurück ins Wach jedes Mal. Doch es ist kein Reh. Da ist sie sich sicher. Betont es beharrlich. Eine graue Gestalt. Überrascht und schreckverzerrt. Dreht sich in Richtung des Wagens im zu späten Moment des Realisierens. Augen, Mund und Ohren weit aufgerissen. Die dürren Arme pressen etwas an die hagere Brust bevor der Zusammenstoß sie durch die Luft wirbelt. Nur kurz verschwindet sie aus dem Blickfeld, um Bruchteile später auf den gläsernen Windschutz zu schlagen. In diesem Moment ist die schweißbadende Einlage vorbei und sie wieder schweratmend — dann und wann schreiend — zurück in ihrem Bett. Die Erinnerung ist es nicht. Während der Traum immer wiederkommt — die Erinnerung kommt nicht.

So vergehen die Tage und Wochen und die Monate. Gegen die Träume reicht man ihr Pillen. Für die Erinnerung: Tabletten. Gläser voll Wasser spülen sie hinunter und dann steht er da. Einfach so steht er da. Steht in ihrem Raum. Steht am Fußende. Eine graue Gestalt. Beobachtet jede ihrer Bewegungen. Aufmerksam. Noch ist er sich nicht bewusst, das sie es sich seiner ist. Sie versucht sich nichts anmerken zu lassen. Reibt sich dennoch die Augen. Er notiert. Mit spitzem Bleistift schreibt er auf einem Klemmbrett. Feinsäuberlich. Schaut nur kurz auf. Erkennt, dass er erkannt. Die Mine bricht auf dem Papier und in seinem Gesicht mit ›ie‹. Ein böses Spiel? Mit fließender Bewegung verschwindet sein Utensil in brauner Tasche und er schon fast durch die Tür. Da springt sie auf. Wie das Reh, aber wild. Stürzt sich auf ihn. »Warum hast Du mir meine Erinnerungen geklaut?!«, entfährt es ihr. Wutentbrannt drischt sie auf ihn ein bis Pfleger sie von ihm reißen. Was denn los wäre wird sie gefragt. Warum sie sich so aufrege. Sie ist völlig aufgelöst. In Tränen. »Warum lasst ihr den Kerl hier rein?«, schluchzt sie. Welchen Kerl sie denn meine wird sie gefragt. Wo er denn hin sei. Er ist weg — aufgelöst. In Luft. Misstrauisch beäugt sie den Pfleger. Stecken sie alle unter einer Decke? Sie wird unter ihre gesteckt. Soll schlafen. Mit den Pillen aufgelöst. In einem Glas Wasser. Ohne die Träume. Mit den Tabletten und sich erinnern. Gefälligst. Bald. So bleibt sie zurück in ihrem Bett und mit ihr die Angst. Eine graue Gestalt. Genauso überrascht und schreckverzerrt, wie in ihrem Traum. Aber hier in diesem Raum. Nervös schaut sie sich um. Immer wieder. So lange sie schaut taucht er nicht auf. Sie kann und will nicht schlafen. Irgendwann findet er sie dann doch — der Schlaf. Ein unruhiger. Sie wälzt sich. Die Fragmente blitzen. Gerissene Gedanken. Wieder im Wagen. Nebel. Kegel. Sie tritt die Bremse. Mit quietschenden Reifen kommt der Karren zum Stehen. Nicht zu spät. Sie reißt die Tür auf. »Wer bist Du? Was machst Du hier?«, brüllt sie ihm entgegen. Verdattert und verwurzelt bleibt er regungslos. Ihre Finger haben sich in seinen kakifarbenen Anzug gegraben. »Sag es! Sag es! Was willst Du von mir?«

Mit einer nervösen Handbewegung dreht er den Kopf zur Seite und streicht das fettige Haar glatt. Graublond — natürlich. Er muss hier verschwinden. Langsam ohne großes Gebaren. »Ich bin …«, zieht er es in schmierige Länge. »… ein Archivar ungezählter Gedanken. Die deinen an mich werden gleich verblichen sein. So wie meine Gestalt im Nebel.« Er windet sich, doch sie hat ihn fest im Griff. »Was ist da drin?« Deutet sie mit dem Kinn auf die abgewetzte, braune Ledertasche für A4. »Wir züchten geschriebene Erinnerungen im Auftrag des Archivs.« Mehr gibt es nicht zu sagen. Sie flüstert. Ehrfürchtig. »Sind es meine?« Er kneift die Augen zusammen. Nickt. »Ja.« Sie reißt sie ihm aus den Händen und sich von ihm los. Schnappt den Verschluss und die Klappe auf. Ein grelles Licht schlägt ihr entgegen und sie aus ihrem Traum. Mit weit aufgerissenen Augen sitzt sie da. Der bleiche Mond lugt zum Fenster hinein und lässt die Krankenhausumgebung noch kälter erscheinen, als sie sowieso schon ist. Ihr egal. Regungslos sitzt sie da und doch lodert es in ihr. Sie glüht. Freudig. Ihr Herz pumpt. Dadung. Dadung. Bis zu den Ohren. Langsam ergreift sie ein fassungsloses Grinsen. Bis zu den Ohren. Und ihr Herz pumpt immer schneller. Dadadung. Dadadung. Sie kann es nicht länger halten. Beginnt laut zu lachen. Sie weiß wieder! Sie weiß alles wieder! Wie um es zu testen sagt sie ihren Namen, die Adresse: Straße, Hausnummer, Postleitzahl und Ort. Ihren Geburtstag und die Telefonnummer. Die PIN für ihr Bankkonto. Die Namen ihrer Mutter, ihres Vaters, ihrer Geschwister. Alles was ihr in den Sinn kommt sagt sie auf. Wie Verse eines großen Gedichts. Psalmen ihres Lebens. Sie sprudeln aus ihr heraus. Schon ein paar Tage später wird sie entlassen. Darf nach Haus.

♹ Ende
Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.