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Abschied

2006

Graue Gestalten hasten die langen Treppen zu den Bahnsteigen nach oben. Der Zug wartet. Ab und zu entweicht weißer Dampf in die eisige Kälte des frühen, winterlichen Morgens. Er weiß nicht, ob er fahren soll. Man kann die Gesichter der Vorbeihuschenden in der Eile kaum erkennen. Hinter ihm die Stadt gegossen über die Hügel. Die Dächer auch weiß von Schnee. Der Himmel leuchtend blau und ohne jede Quellwolke. Am Bahnsteig leuchtet noch eine Laterne, auch wenn sie es nicht mehr muss. Sie will nicht, dass er fährt. Beide in langen dunklen Wintermänteln. Nicht mehr lange. Dann fährt der Zug und er, der mit ihm fahren soll, könnte den Mantel ausziehen, es sich in seinem Sitz bequem machen, die Füße hochlegen, wenn das Abteil leer ist. Auf dem Platz neben ihm der silberne Aktenkoffer, den er bei sich hat. Lieber hätte er dann sie bei sich und sie hätte gern den Inhalt des Koffers gesehen. Er hätte nicht so ein Geheimnis daraus machen sollen. Aber er hatte so ein Geheimnis daraus machen müssen. Weil sie gefragt hatte und er nichts sagen durfte. Jetzt machte sie sich Sorgen und er sich Vorwürfe und er wollte nicht mehr gehen und er wollte sie nicht mehr allein lassen.

Graue Gestalten hasten an ihnen vorbei auf dem Bahnsteig umher. Der Zug wartet nicht mehr lange. Sie trägt einen weißen Schal gegen die eisige Kälte des Wintermorgens. Man kann ihr vermummtes Gesicht kaum erkennen. Beinahe trotzig steht sie vor ihm. Neben ihr die Laterne, die immer noch leuchtet. Die auch weiß behandschuhten Hände stecken in den Taschen. Eine braune – aus Leder – steht neben ihm. Das sind seine Sachen. Sie weint. Das ist ihre Sache. Er versucht es sich einzureden und weiß, dass es nicht stimmt. »So…«, haucht er es vorsichtig. Beinahe wäre er über seine eigene Stimme gestolpert, die im Weg lag. Auf dem Weg, auf den er sich machen sollte. Der Zug pfeift. Nur der Zug, nicht der Schaffner. Die Gelegenheit wäre dennoch günstig. Zu gehen. Gehen muss er sowieso. Plötzlich, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, krallen sich ihre kaschmirkaschierten Hände in seine Seiten und ziehen ihn zu ihr. Drücken sie an ihn. Er kann den Duft ihrer Haare riechen. So verharren sie auf dem Bahnsteig. Dann pfeift auch der Schaffner. Graue Gestalten hasten zu ihrem Zug. Der wartet nicht mehr. Weißer Dampf sticht schnaufend in die Eiseskälte des Wintermorgens quer durch die Stadt über den Hügel. Vorbei an schneeweißen Dächern unter dem leuchtendblauen Himmel rauscht er dahin. Graue Gestalten. Zug. Dampf. Eiseskälte. Winter. Morgen. Am nächsten Morgen wacht er auf. Den Mantel hatte er ausgezogen, es sich in seinem Sitz bequem gemacht, die Füße hochgelegt, weil das Abteil leer war. Erst hatte er aus dem Fenster geschaut. Städte. Hügel. Dächer. Schnee. Himmel. Quellwolken. Gegen Abend dann leuchtende Laternen. Irgendwann war er eingeschlafen. Auf dem Platz neben ihm der silberne Aktenkoffer. Das war kein Geheimnis. Der Inhalt schon. Lieber hätte er sie bei sich oder ihr den Inhalt des Koffers gezeigt. Sie hatte sich Sorgen gemacht und geweint. Er hatte sich Vorwürfe gemacht und geschwiegen. Dann war er in den Zug gestiegen. War zur grauen Gestalt geworden. Hastete in sein Abteil. Der Zug hatte nicht mehr gewartet. Aus dem Fenster hatte er sie da stehen sehen mit dem weißen Schal gegen die Eiseskälte des Wintermorgens. Das verheulte Gesicht konnte er kaum erkennen. Trotzig hatte sie da gestanden. Nicht gewunken. Die weiß kaschmirkaschierten Hände, die sich in seine Seiten geklammert hatten, nun wieder in die Taschen. Geklammert. Seine braune – aus Leder – hatte er im Gepäcknetz verstaut. Noch immer kann er den Duft ihrer Haare riechen, wie gestern als sie auf dem Bahnsteig verharrten. Nicht lange. Verharrten sie. Nicht lange.

♹ Ende
Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.