Sie wünschen?

# Zettel

Verstohlen guckte sie sich um. Sie hatte soeben dieses Zettelchen gefunden. Unscheinbar hatte es am Rand des Gehwegs gelegen. Aus reiner Neugierde hatte sie gestoppt und es aufgehoben. Ein spontaner Spaziergang. Das Wetter war gut. Kaum ein Wölkchen am strahlend blauen Himmel. Zwitschernde Vögel — es war herrlich. Nur ein Wort stand auf dem abgerissenen Stück … Stück … Papier war es nicht. Irgendein Kunststoff, der auf den ersten Blick wie Papier aussah und sich auch so anfühlte, aber nur oberflächlich. »Zeitreise.« stand da. Handschriftlich, sauber und schwarz, geradezu einwandfrei leserlich. »Zeitreise.« Punkt. Seit dem hatte sie den Zettel gefühlte tausend Mal aufgehoben. In die Hand genommen. Das Nichtpapier gefühlt. Es zwischen Daumen und Zeigefinger behutsam gerieben. Daran gerochen und sich vor allen Dingen immer wieder verstohlen umgesehen. War es ein Trick? Nach all den Jahren stellte sie sich immer noch diese Frage. Der Zettel war nun verstaut in ihrer obersten Schreibtischschublade. Lagerte dort ganz allein auf schwarzem Filz. Sie wusste nicht warum, aber sie spürte, dass das der richtige Schreibtischschubladenboden für diesen Zettel war. »Zeitreise.« Das Wort rotierte in ihrem Kopf. Eigentlich ständig. Seit dem ersten Tag. Zeit-Rei-Se. Es verlor mehr und mehr an Kontur. Weich gelutscht von der ständigen, sinnfreien Wiederholung. Reit-Sei-Ze. Bald war es weniger als eine hohle Phrase. Zer-Tei-Si-E. Vollkommen verzerrt echote der reine Laut durch ihren Kopf, während das Gefühl, das sie mit ihm verband, immer stärker wurde. Der Hall wogte hin und her. Wohin? Sie hatte angefangen Bücher zu lesen. Die Wälzer waren über die Jahrzehnte in ihrem Regal gilb geworden und verstaubt. Der Zettel nicht. Dieses kleine, abgerissene Stück Nichtpapier — es trotzte der … Zeit. Sie konnte es nicht anders umreißen. Es war ein Trick! Jemand spielte ihr einen Streich — all die Jahre. All die Jahrzehnte? Nein, nein. Sie beruhigte sich, wie sie sich jeden Tag beruhigte. Kein Trick. Der Zettel ist echt. Bücher über Zeitreisen. Aus der Forschung. Aus der Fiktion. Sie hatte über die Paradoxien gelesen. Über die Schwierigkeiten. Über die immensen Energien, die nötig wären. Es war unmöglich. Nein — sie korrigierte sich: Nach heutigem Stand der Wissenschaft war es unmöglich. Dieser kleine Schnipsel sagte ihr, dass die Wissenschaft falsch lag. Zeitreisen waren möglich. Der Beweis lag nun wieder in ihrer Schreibtischschublade. Wenige Meter von ihr entfernt. In Reichweite. Mit jedem Mal, das sie den Zettel in die Hand nahm, wurde sie sich ihrer eigenen Vergänglichkeit — ihrer eigenen Unvollkommenheit — mehr und mehr bewusst. Ihre Gedanken aber kreisten weiter. Die Lösung war so nahe. In Reichweite! Der Durchbruch nur knapp am Rande ihres Gesichtsfeldes, doch wenn sie sich drehte, um ihn zu fokussieren verschwand er. Er ahnte ihre Bewegungen. Er kannte sie — nach all den Jahren. All den Jahrzehnten. Wieder schaute sie sich verstohlen um. Nicht, nichts, immer nichts. Sie hatte selbst angefangen zu forschen. Ein kleiner Schreibtisch. Eine kleine Werkbank. Ein kleines Labor. Lichtwellen. Spulen. Apparaturen. Sie durchforstete jede Wissenschaft. Sie schraubte und hantierte. Züchtete rote, grüne und blaue Kristalle. Schliff sie zu Linsen oder aß sie als Pillen. Wenn eine Testfahrt anstand bat sie den Nachbarsjungen unter Stillschweigen zur Hilfe. Sie zahlte gut. Sie investierte all ihr Gespartes. Der Junge wurde immer älter. Nie jünger. Sie auch. Doch dieser eine Gedanke hielt sie wach. Sie erzählte ihm alle Geschichten. Erklärte ihm alle Theorien. Er verstand schnell, wurde zum theoretischen Zeitreisenden, so wie sie. Sie diskutierten über verschiedenste Ansätze und immer wieder kamen sie an den Punkt an dem er laut ausrief ›Es ist unmöglich.‹, dann korrigierte sie ihn: ›Nein, nach heutigem Stand der Wissenschaft ist es unmöglich.‹ Und er fragte wie sie sich so sicher sein könnte und sie sagte nichts, lächelte nur wissend. Von dem Zettel erzählte sie ihm nie. Der lag in ihrer obersten Schreibtischschublade. Auf schwarzem Filz. All die Jahre. All die Jahrzehnte. »Zeitreise.« stand da.

Eines Abends — er hatte sie zuvor zu Bett gebracht und war dann doch noch in der Werkstatt geblieben — öffnete er aus versehen die falsche Schublade. Er fand einen kleinen Zettel. Verstohlen guckte er sich um. Nur ein Wort stand auf dem abgerissenen Stück … Stück … Papier war es nicht. Irgendein Kunststoff, der auf den ersten Blick wie Papier aussah und sich auch so anfühlte, aber nur oberflächlich. »Zeitreise.« stand da. Sofort wusste er was er dort in Händen hielt. Eine ungeheure Energie durchflutete ihn. Er erkannte diese Schrift. Sauber und schwarz, geradezu einwandfrei leserlich. »Zeitreise.« Punkt. Er schüttelte den Kopf. Rieb sich die Augen. Gefühlte tausend Mal. Dann stürmte er in die Werkstatt. An die Maschine. Die ganze Nacht über arbeitete er wie ein Wahnsinniger. Als sie am Morgen aufstand waren er und der Apparat verschwunden.

Die Handschrift. Es war seine.

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Christopher Reinbothe

Dipl. Kommunikationsdesigner
@phneutral
DE, NRW, Wuppertal

THE END

Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.