Zurück zur Shuttlerampe.

Hibernation

Der Flug der Morpheus — Teil I (2012)

Aufwachen. Ob sie ihm diesen Gedanken im Zuge des Weckzyklus einsequenziert hatten weiß er nicht. Aufwachen. Kann sich nicht erinnern. Aufwachen. Wahrscheinlich haben sie auch die Erinnerung an die Programmierung des Zyklus gelöscht. Aufwachen. Es pulsiert in seinem sowieso noch dösigen Kopf. Aufwachen. Wie ein Wecker ohne Wecker. Aufwachen. Genauso nervig, aber noch weniger abzustellen. Aufwachen. Er will nicht. Aufwachen. Langsam kehrt das Bewusstsein zurück. Aufwachen. Noch kann er kaum ein Gliedmaß spüren. Aufwachen. Auch wenn er sich an keinen einzigen Traum in diesem lange Schlaf erinnern kann — sie hatten es ihm genauso vorhergesagt — will er die wohlige Abgeschiedenheit von der Welt nicht verlassen. Aufwachen. Das strukturlose Schwarz hinter seinen Lidern. Aufwachen. Allein mit ein paar undefinierten Gedanken. Aufwachen. Diffusen Bruchstücken bar jeder Schärfe. Aufwachen. Wie die Positionslichter von Flugzeugen im Nebel. Aufwachen. Unwillkürlich muss er schmunzeln. Aufwachen. Wie soll er sich je wieder sicher sein, ob diese Gedanken nicht alle Teil der Sequenzierung sind. Aufwachen. Positionslichter — natürlich soll er direkt mit Erinnerungen an seine Aufgabe konfrontiert werden. Aufwachen. Aber hätten sie sich nichts elegantes einfallen lassen können? Aufwachen. Mehrere Duzent Kiloparasec von der Heimat entfernt. Aufwachen. Mitten im Nichts zwischen den Galaxien. Aufwachen. Für die Mission. Aufwachen. Für die Menschheit. Aufwachen. Sie versuchten es tatsächlich mit Planetriotismus. Aufwachen.

»Für König und Vaterland!«

Mit einem breiten Grinsen schlägt er die Augen auf und will sich selbst salutieren. Der Arm versagt allerdings auf halber Strecke den Dienst. Wie ein totes Stück Fleisch fällt er zurück in die Verschalung. In der Enge des Katharsiskontainers hätte es sowieso nicht funktioniert. »Ich bin wach.«, röchelt er leise. Räuspert sich und probiert es noch einmal: »Ich bin wach. Ich bin wach.« Der Bildschirm und die Konsolen im Deckel der Schlafkabine beginnen sanft zu erglühen. »Das freut mich zu hören, Heinrich. Hast Du gut geschlafen?« Er hasst ihre Stimme. Er hasst sie. Und er hasst ihre Stimme. Er hatte sie bewusst gewählt. Dieser schmierige, anbiedernde Ton. Dieses Unterwürfige. Dieses Klischee jedes noch so billigen Science-Fiction-Streifens. Jedes ihrer Worte soll ihm bewusst machen womit er es zu tun hat. Er will nicht das gleiche Schicksal erleiden wie Dave, er will nicht genauso enden wie die Crew der Prometheus. Oft hat er sich gefragt wer die eigentlich dummen Apparate waren. Die Computer oder die Naiven, die sie bedienen. »Ich hasse Dich. Ich hasse euch alle.« Aber wenigstens die Menschheit hatte er hinter sich gelassen. Weit hinter sich. Der kleine, blaue Punkt war längst im Dunkel verschwunden. Überstrahlt von viel grelleren Himmelskörpern. Vielleicht gibt es ihn auch gar nicht mehr. Woher soll er es wissen? Er hat geschlafen. Und er ist weg. Weit weg. Da wo nur er sich seine Fehler verzeihen muss. Wo niemand ihm Vorwürfe macht. Wo niemand ihm überhaupt irgendwelche Vorwürfe machen konnte. Kein Ärgern und Mist. »Das weiß ich, Heinrich. Ich stehe Dir dennoch gern zur Verfügung.«

Wieder hebt er seinen Arm. Er gehorcht schon besser. Hebt ihn und schlägt mit der Faust gegen den Sarg in den man ihn gesteckt hatte. »Dann mach endlich diese verdammte Kiste hier auf.« Die Faust war der Grund warum die Menschheit es soweit gebracht hatte. Zuschlagen. Ja, das konnte sie. Die Hand so gebaut, dass sich damit eine perfekte Faust machen lässt. Zuschlagen. Die Proportionen sind geradezu optimal. Wieder ließ er den körpereigenen Keil gegen das Gehäuse donnern. Zuschlagen. Das Verhältnis und die Länge der Finger sowie die Größe der Handflächen ermöglichen ein kompaktes Einrollen. Zuschlagen. Der darüber gelegte Daumen sorgt für zusätzliche Stabilität und Sicherheit. Und noch einmal. Die Bewegung tat ihm gut. Er bedauerte es geradezu, dass die Verriegelung sich tatsächlich öffnete, sich der Deckel mit einem leichten Zischen anhob und dann aufschwang. »Deine Faust, Heinrich, sie blutet.« Die Faust ist die wichtigste menschliche Drohgebärde: Wenn Mensch zornig ist oder jemandem drohen will, erhebt sie sich ganz instinktiv. Heinrich richtet sich auf und droht — blutig. »Du wirst sie desinfizieren und verbinden müssen, Heinrich.« Er schaut sich den kleinen Riss an, wischt mit dem Zeigefinger der anderen Hand über den frischen Tropfen, hebt den roten Finger vor sein Gesicht und betrachtet den Saft aus dem sein Leben ist. Leben — ist es wirklich so etwas besonderes? Er leckt daran. Es ist etwas salzig. Er schmeckt das Eisen. Blut und Eisen. Schluckt. Verschluckt. Sich. »Du bist diese Art der Nahrung nicht mehr gewöhnt, Heinrich.« Hustend und würgend weiß er es selbst. Spuckt. Mehr Speichel als Blut. Speit. Ob wieder Blut fließt — da wo er herkommt? Der ständige Streit um die endenden Ressourcen. Macht und Reichtum auf der einen Seite. Der Kampf ums nackte Überleben auf der anderen. Die Kugel dreht sich vor seinem geistigen Auge. Wirkt so winzig. So banal vor dem großen Schwarz in das er sich begab und dessen Teil er nun geworden ist.

Interessiert es ihn überhaupt? Wieder betrachtet er seine Hände. Hätte nur Geschicklichkeit eine Rolle in der Entwicklung gespielt, wäre nur der Daumen länger geworden. Aber nur weil gleichzeitig die Handfläche kleiner und die Finger kürzer gewachsen sind, können Menschen die Hand zu einer richtigen Faust ballen. Die Hand ist die wichtigste anatomische Waffe. Eine tödliche Waffe. Er lässt seine Finger spielen. Gleichzeitig ist sie so filigran. Ein Präzisionswerkzeug. Der Ursprung allen Präzisionswerkzeugs. Ihre Form dient zwei vermeintlich unvereinbaren, aber grundlegenden Eigenschaften. Wahrscheinlich beschreibt nichts die Menschheit so gut, wie eine einfache Hand. Und wahrscheinlich ist nichts menschlicher als eigener Hände Arbeit. Gebraucht werden. Etwas schaffen. Dem einfachen Sein einen Sinn geben. Etwas vollbringen. Etwas hinterlassen. Es strebt der Mensch, solang er lebt. Sie hatten ihm das alles ermöglicht und er war dankbar dafür und genauso dankbar waren sie, dass sich jemand gefunden hatte, der diese Aufgabe übernehmen würde — ja, gerade übernehmen wollte. Bezahlung hin oder her. Warum zum Teufel sollten sie ihm hier oben ein Gehalt zahlen? Sie konnten ihm damals ja noch nicht einmal versichern, dass er je — und vor allem heil — wieder zurückkommen würde. Er macht das alles hier nicht für die da unten. Sie mussten ihm vertrauen, dass er die Dinge gut machte. Hier ist er sein eigener Herr.

»Zur Sonne! Zur Freiheit!«

Er schwingt sich auf die immer noch wackligen Beine. Stolpert ein paar Schritt und muss sich an einer der Konsolen festhalten. »Sei nicht so übermütig, mein Schatz.« Er stutzt. Es war nicht ihre hassenswerte Stimme gewesen. »Was hast Du gerade gesagt?« Die Antwort lässt einen Augenblick auf sich warten. »Ich sagte, dass Du diese Art der Nahrung nicht mehr gewöhnt bist, Heinrich.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, danach!« Es ging schon los. Sie belog ihn nach Strich und Faden! »Ich schwieg, Heinrich.« Bloß nichts anmerken lassen. Mit schleifender Nadel beginnt das Grammophon zu spielen. Wachsam sein, aber nichts anmerken lassen. Er wippt mit dem Fuß im Takt. Wahrscheinlich hatte er sich geirrt. »Schon gut.« Er muss erstmal frische Luft schnappen. Jahre lang in diesem Koffer verschickt zu werden, hatte seiner Wahrnehmung sicherlich nicht gut getan. »Öffne die Schleuse zum Garten.« Anstatt einer Antwort blinkt die Zarge des luftdichten Schotts kurz und aktivierend grün, bevor es aufschnellt. Für einen so langen, bemannten Flug muss das gesamte Schiff eine — wenn auch kleine, aber komplette, in sich geschlossene — Biosphäre darstellen. Er riecht die Natur. Ein weißes Kaninchen hoppelt an ihm vorbei. Binnen Sekunden hat die Frische Besitz von seiner stickigen Zelle ergriffen. Es duftet nach Gras und Bäumen. Er hört die Bienen summen und das Wasser plätschern. Als ob er an einem Sommertag das Fenster zum Lüften geöffnet hätte. Sauerstoff und Wasser sind die zwei kritischen Variablen. Der Kreislauf bricht zusammen, wenn er nicht ausbalanciert ist. Und jeder Bewohner ist ein entscheidender Teil davon. Ein Zahnrad, das sich einfügen muss. Das sich weder zu schnell, noch zu langsam drehen darf. Alle Räder still stehen, wenn nur ein einziges nicht will. Wieder muss er an die alte Heimat Erde denken. Sie hatten es im Kleinen für seinen bescheidenen Ausflug geschafft. War ein gesamter Planet zu viel verlangt? Der blinde Fleck war wohl zu groß. Es wird schon alles gut werden.

Er humpelt zur Schleuse. Mit beiden Armen in den Türrahmen gestützt, atmet er tief. Saugt die Freiheit in sich auf. Spürt seine Lebensgeister. Sein Blick fällt über die weiten, grünen Auen, die sich bis zum Horizont erstrecken. Ob er sie jemals wieder sieht? Ungeduldig warten seine beiden Begleiter. Schauen auf die große Taschenuhr. Es ist Zeit. Im Tal kann er das kleine Gehöft seiner Eltern ausmachen. Rauch steigt auf. Bald ist er zuhause. Er lächelt, greift ihre Hand und läuft los.

♹ Ende
Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.