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Insomnia

Der Flug der Morpheus — Teil II (2015)

Sie beobachten ihn. Dessen ist er sich sicher. ›Bloß nichts anmerken lassen.‹ Übertrieben gelangweilt wandert sein Blick durch die urige Küche und bleibt unscharf am saftigen Grün vor dem Fenster hängen. Hier ist er zuhause. Einer der vielen Terminals gibt ein unbestimmtes Pfeifen von sich. Unzählige Sensoren und endlose, unüberschaubare Prozesse halten ihn inmitten der Unendlichkeit am Leben. Irgendwo dahinten in den Wäldern werden sie hocken, denkt er sich. Er kneift die Augen zusammen. Mit ihren Gläsern. Die Rohre fern auf ihn gerichtet. Jedem seiner Schritte folgend.

Seit dem sie ihn aus dem Kryoschlaf geweckt haben, kannte er das Gefühl von Müdigkeit nicht mehr. Wochenlang ist er nun schon wach. Ihm fehlt jeder Rhythmus. Außerhalb des Raumschiffs ist es gleichbleibend schwarz, aber die ständige Präsenz der Sonne macht jeden Eindruck einer Nacht zum Tage. Quer durch das Universum haben sie ihn geschickt, ihn geweckt und so programmiert, dass er seine Aufgabe ohne lästige Ruhepausen erfüllen konnte. Gewarnt oder in anderer Weise darauf vorbereitet haben sie ihn nicht. Er spuckt auf den steinernen Fußboden und schüttelt den Kopf. Angestrengt versuchen seine Augen die Werte auf der Kommandokonsole zu fokussieren.

Erst ist es nur ein kleiner blauer Punkt inmitten des Schwarz gewesen. Dem kalten, unendlichen, einsamen Schwarz. Dem Schwarz in das er geflohen war, das ihn umgab, dessen Teil er jetzt ist. Doch nun war da dieser Punkt. Ein Punkt gleich dem, den er hinter sich gelassen hatte. Ein blauer Punkt. »Irene. Ist sie das?« Seine Skepsis ist nicht auf den Punkt, sondern noch immer auf Irene bezogen. Irene, die einzige Stimme, die er hier hört. Die einzige Begleitung, die er hier hat. Und dennoch: trauen kann er ihr nicht. Sie steckt mit ihnen unter einer Decke. Befolgt ihre Befehle und bespitzelt ihn. Er gähnt. Sie fragt: »Wen meinst Du, Heinrich?« Er gluckst. »Ist sie es, Irene! Die Erde! Ist sie es?« Seit Jahrhunderten hat kein Mensch sie mehr gesehen. Sie existiert nur noch in Erzählungen, in den Archiven. Die Wiege der Menschheit. Ein Mythos. Eine Sage. Sein Auftrag — doch nicht mehr als eben das. »Ich bereite eine erste Messung vor, Heinrich.« Er reibt sich euphorisch die kalten Hände. Warum fragt er eigentlich? Es muss die Erde sein! Er hat den Kurs penibel beibehalten, kleinste Abweichungen korrigiert. Wenn die Maschine ihn nicht hintergangen hatte, würde es eine Punktlandung werden. Langsam formt das Hologramm einen dreidimensionalen Oberflächenscan, während sich das kleine, silberne Schiff weiter durch das alte Sonnensystem schiebt. Es ist ein Fremdkörper. Ein Parasit. Sie ist ein fast vergessener Anblick. Eine Göttin. »Sie ist so … schön.« Ehrfurcht erstarrt starrt er aus Furcht auf die hin und wieder flackernde Kugel. Als könnte sie verschwinden, wenn er nur kurz den Blick abwendet. Sie dreht sich. Dreht sich. Dreht. Die Kugel. Das Kaninchen. Mit einer silbernen Kaffeekanne. Zwinkert ihm zu. »Irene!« Er ist wieder bei sich. ›Bloß nichts anmerken lassen.‹ Er murmelt es vor sich hin wie ein Mantra. ›Bloß nichts anmerken lassen.‹ Sie will ihn dran kriegen! Seit sie ihn aufgeweckt hat. Will ihn verraten! Es ist ein Test. ›Bloß nichts anmerken lassen.‹ Genervt schlägt er mit der Faust auf das Messpult. »Ja, Heinrich?« Er muss sich zusammenreißen. Darf nicht die Kontrolle verlieren. »Es ist die Erde!« Er hatte die Kontrolle. »Ja, Heinrich.« Er versucht sich zu erinnern, wie sich Müdigkeit anfühlte. Wie fühlt sie sich wohl an? Diese Müdigkeit? Diese wohlig, warme Müdigkeit, die einen umfing, um ihn mit in den Schlaf zu reißen. Zu den Träumen. Süße Träume. »Heinrich! Konzentriere Dich!« Schrecklich erschrocken schreckt er auf. Ist es Irenes Stimme gewesen? Er ist sich nicht sicher. Wenn dies nur ein Test war, wenn sie ihn auf Schritt und Tritt beobachteten, dann durfte er sich keinen Fehler erlauben. Er musste sich zusammenreißen. ›Bloß nichts anmerken lassen.‹ Wahrscheinlich würden sie jeden Moment eine geheime Luke öffnen und ihm eröffnen, dass er durch den Test gefallen sei. In den Weltraum wäre er nie geschossen worden. Alles nur Fassade. Kulisse. Pappmaché. Er dürfe jetzt aussteigen, sie würden sich einen besseren Kandidaten suchen. Sein Verhalten gefährde die wichtige Mission. Bei der Rückkehr der Menschheit zur Erde — nach all den Jahren — sei nun kein Platz für alberne Kindsköpfe. Dickschädel. Egoisten. Sie mussten sich auf ihn verlassen. Verlassen können! Genauso wie er sich auf sie und seinen Bordcomputer verlassen müsse. Verlassen können müsse! Verlasse… müsse … könne … küsse. Ein Kuss. So zarte Lippen. Sommersprossen auf der Nase. Der Wind in ihrem Haar. Es duftet nach … Sonne. Das langsam an- und abschwillende Geräusch des Antriebs hüllt ihn ein. Ein wohliges Brummen.

Summ. Summ. Summ. Bienchen summ herum.

Als sein Kopf auf die Instrumente schlägt ist es zu spät. Verwirrt schreckt er auf und wischt sich den Speichelfaden aus dem Gesicht. Sie müssen es gesehen haben. Zumindest sie muss es bemerkt haben. Nichts geschieht. Er tut geschäftig. Tippt auf seinen Instrumenten herum. Vor ihm rotiert noch immer das Abbild der Erde. Sein Blick ist so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Nein, er wird sich nicht auf die einfache Aussage der Maschine verlassen. Vielleicht gibt es hinter der Hülle seines Schiffes keine Welt. Der Bildschirm ist nicht allwissend. Grübelnd dreht Heinrich seine Kreise durch die enge Kanzel. Sein Wille ist wie betäubt. Wieder gähnt er. Er fühlt sich hintergangen. Von seiner Begleitung, deren Schilderungen der Außenwelt er nicht vertrauen kann, und von ihnen, die sie ihn aus den Träumen ausgesperrt haben und ihn von dort aus beobachten. Sie hatten ihm zwar den Schlaf genommen, doch seine Gedanken sind noch frei. Ein Geistesblitz durchzuckt ihn. Triumphierend reißt er die Augen auf. »Irene, ich gehe raus! Ich will sie mit eigenen Augen sehen!« Sie zögert kurz — zumindest bildet er sich das ein — und antwortet dann in ihrem typischen Singsang: »Das kann ich nicht tun, Heinrich. Wir befinden uns auf der Transitstrecke. Ein ungeplanter Spaziergang ist nicht vorgesehen.« Er schweigt. Langsam beginnt er den Kopf zu schütteln. Lange kann er das nicht mehr aushalten. Seine Maskerade beginnt zu bröckeln. Blut schießt in seinen Kopf, als er sich seiner Machtlosigkeit bewusst wird. Dieser Apparat beherrschte ihn. Nicht er war der glorreiche Abgesandte des edlen Menschenvolks, sondern nur der Handlanger der ihn umschließenden Konserve. Wahrscheinlich noch nicht einmal das. Ein seltenes Tier in einem Gehege, das ohne Pfleger in der Natur zugrunde gehen würde. Wut steigt in ihm auf. Unberechenbare, trotzige, kalte Wut. »Ich bin der Kapitän dieses Schiffes!«, geifert er. »Das ist richtig, Heinrich.« Jeder weitere, gleichgültige Satz von ihr macht seinen Ausbruch nur noch schlimmer. Er schäumt. Er brodelt. Er kocht. Kocht über! »Was tust du, Heinrich?« Er antwortet nicht. Adrenalin pumpt durch seinen Körper. »Heinrich?« Auf einmal kommt ihm die gesamte Szenerie so unglaublich bekannt vor. Seine Wut kanalisiert. Als ob er es schon einmal erlebt hat. Ein Déjà-vu? Jedes Piepen der Rechner. Jedes noch so kleine Staubkorn, das durch die Kanzel schwebt. Er erkennt es wieder. Er weiß was zu tun ist. Die Unendlichkeit liegt vor ihm. Wie ein weites Band breitet sie sich aus. »Warum schaltest Du auf manuelle Steuerung, Heinrich?« ›Weil ich es muss.‹, denkt er bei sich, doch schweigt weiter angestrengt. Seine Gedanken marschieren auf der Zeitachse. Sind der Realität gut zwei Schritt voraus. Jeder Handgriff sitzt, denn er weiß. Er sieht. Ist der Seher. Er darf die Spannung nicht verlieren. Er darf die Konzentration nicht brechen. Er darf sich nicht ablenken lassen. Er ist hellwach! Gleich sagt sie: »Heinrich, es wurde eine Kursänderung vorgenommen.« Er nickt nur. Ein leichtes Schmunzeln huscht über seine Lippen. »Bei dieser Geschwindigkeit wird ein Landemanöver auf der Planetenoberfläche unmöglich, Heinrich.« Das Schmunzeln breitet sich zu einem Grinsen aus. Euphorisch bleckt er die Zähne. »In wenigen Minuten treten wir in die Erdatmosphäre ein, Heinrich.« Wieder spielt das Grammophon. Hörner. Fanfaren. Streicher setzen ein. Das Kaninchen dirigiert mit weit aufgerissenen Augen.»Mein Zugriff auf die Steuerung ist blockiert, Heinrich. Ich kann das Schiff nicht bremsen.« Bläser und Streicher überschlagen sich. Sein irres Kichern steigert sich zum wahnsinnigen Gelächter. So zahlt er es ihnen heim! Er hat sie besiegt! Niemand kann ihn aufhalten! Heinrich lacht. Lauthals. Sein Komet schießt auf die Erde nieder. Mit einem gewaltigen Feuerwerk am Firmament kehrt die Menschheit auf die Erde zurück. Und zerschellt.

»Irene?«
»Ja, Heinrich?«
»Wo sind wir?«
»Im Himmel, Heinrich.«
»Wir sind im Himmel?«
»Ja.«

♹ Ende
Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.