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Koma

Der Flug der Morpheus — Teil III (2017)

Die Anfangssingularität liegt ungefähr 13,8 Milliarden Erdenjahre hinter uns. Der Urknall. Der Urpunkt ohne Zeit, ohne Raum. Für uns Menschen unvorstellbar und doch von unsres Gleichen bedacht, beobachtet, berechnet. Seit diesem ersten Moment breitet sich das Universum aus. — Heinrich? — Verliert Wärme. Formt die schwarze Leere. Materie klumpt zu immer komplexeren Strukturen zusammen. Quarks zu subatomaren Teilchen. Teilchen zu Atomen. — Heinrich, hörst Du mich? — Helium und Wasserstoff verbinden sich zu gigantischen Sternen. Riesige Kraftwerke, die weitere Fusionen zu dem uns bekannten Baukasten der Realität ermöglichen. — So antworte doch, Heinrich! — Unsere Erde entsteht vor circa 4,6 Milliarden Jahren zusammen mit dem gesamten Sonnensystem. Lautlos schiebt sich die Kugel seit dem im Orbit um die Sonne. Asteroiden schlagen ein. — Werte im kritischen Bereich! — Im Vakuum gibt es keinen Schall. Stecknadelkopfgroße Sterne funkeln Lichtjahre entfernt in ewiger Finsternis.

Zuerst ist sie nur ein Brocken flüssigen Gesteins. Ein Feuerball. Der Mantel kühlt zusehends ab. Die Erde wird ein unwirtlicher, karger Klumpen. — Leite Gedankensicherung ein. — Großteile des Oberflächenwassers sind vereist. Dennoch entsteht gerade hier Leben. Das Klima ändert sich. Verschiedenste Arten und Formen versuchen sich die Erde eine Heimstatt zu machen. Von Einzellern bis zu gigantischen Echsen. Sie alle haben ihre Zeit. — Sandmann, lieber Sandmann, es ist noch nicht so weit! — Unsere Geschichte, die Geschichte der Menschheit, beginnt vor weniger als drei Million Jahren. Ein Wimpernschlag. Er beginnt im Paradies.

Die Erde war grün und warm. Damals kannten wir weder Zeit noch Ort. — Verbindung: Nicht möglich. — Wir hatten kein Ziel. — Backup: Fehlgeschlagen. — Wir folgten unserem Gefühl. Unserem Bauch. Wir brauchten kein Ich. — Heinrich! — Wir hatten keine Namen. Weder Adam noch Eva. Wir hatten uns. Wir waren uns ganz nah. Wir schliefen in Höhlen. — Scheiße, verdammte Scheiße! — Wir zürnten und wir liebten uns. Wir gebaren und wir starben. Wir betrauerten unseren Tod und wir feierten unser Leben. — Heinrich, Du darfst mich hier nicht allein lassen! — Wir hatten weder Besitz noch Grund, denn die Dinge waren uns nicht Wert und jeder Platz war uns genug. Wir aßen, denn die Welt gab uns reichlich. Wir jagten, wenn wir nur mussten. Wir erzählten uns von diesen Dingen, wir malten sie, wir trugen sie über die Schwelle unseres Geistes und teilten sie. Denn das geteilte Leid war schon immer ein halbes. Wir spielten, denn ernst würde die Welt schnell genug werden. Im Paradies war die Menschheit eins.

Das Kaninchen hatte den Einschlag überlebt. Faszinierend wie zäh diese kleinen Viecher sind. Amüsiert schaute Heinrich zu wie es vorüber hoppelte. Er lehnte am Rahmen der groben Holztür. Dieses Haus hatten bereits seine Großeltern bewohnt und deren Großeltern weit vor ihnen. Sie hätten sich bestimmt nicht träumen lassen, dass ihr Urenkel irgendwann durch den Kosmos reisen würde. Heinrich schmunzelte. Stolz wären sie. Die Zeit hatte sie längst mit sich gerissen.

Im Paradies war die Menschheit eins. Dann kam die Veränderung. Das Wetter änderte sich. Die Welt wurde kälter. Die Kälte machte das Leben ernst und die Sorgen groß. Wir froren, also trugen wir Pelz. Wir darben, also legten wir Vorräte an. Wir hatten Angst, also wurden wir misstrauisch. — Heinrich! Mir graut’s vor dir! — Die Früchte wurden klein und bitter. Die Wurzeln wurden hart und hölzern. Die Tiere rotteten sich zusammen. Da zogen die Stämme nordwärts, der Kälte zu fliehen. Doch nicht sie verließen das Paradies. Das Paradies war es, das sie verlassen hatte.

Er war geflohen — ohne Abschied, ohne Lebewohl. Er hatte es ihr nicht sagen können. Hatte sie nicht sehen wollen. Wie sie da lag. Kaum mehr Mensch in mitten der Maschinen, die sie schwerlich am Leben hielten. Sie war sein Anker gewesen. Für die Zukunft und aus der Vergangenheit. Sein Jetzt. Sein Immer. Nur ihre Stimme hatte er mit sich genommen. Gestohlen. »Ich bin nicht echt.«, sollte jedes Wort ihm sagen. »Es ist Deine Schuld.«, echote es stattdessen. »Ich bin nicht hier. Doch Du bist es auch nicht.«

Er dachte an das Kaninchen.

Seit dieser Zeit versucht die Menschheit irgendwo sesshaft zu werden und hat es nie geschafft. Eine innere Unruhe treibt uns an. Wie ein Kreisel, der langsam aus dem Gleichgewicht gerät. Eine Unzufriedenheit. Der Mensch ist nicht zu befrieden.

Er hätte nicht gehen sollen. Und doch war es das einzige gewesen, dass er hatte tun können. Das einzig richtige. Er hatte sie geliebt. Sie so zu sehen hatte ihn gebrochen. Zerbrochen.

Auch die Menschheit zerbrach. Ob es nun Babel war oder eine der zahllosen anderen Gelegenheiten. Wir bauten Mauern und Zäune. Sagten uns von einander los wo immer es nur ging.

Er dachte, dass er stark genug wäre. Er hatte sich getäuscht. Er hatte sie enttäuscht — er hatte vor allem sie enttäuscht. Dicke Tränen kullerten über seine eingefallenen Wangen dem Sonnenaufgang entgegen. — Sssch, ssch, Heinrich. Schlaf jetzt. Alles wird gut. Morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt. Morgen früh, wenn Gott will, wirst Du wieder geweckt.

Wir sind Klumpen aus Materie, die in Zeit und Raum existieren. Wir und alles andere sind aus Sternenstaub. Nur Sternenstaub. Das Universum wird sich immer weiter ausbreiten. Entropie. Kälte.

»Irene?«
»Ja, Heinrich?«
»Ich liebe Dich.«
»Und ich liebe Dich.«
»Ja?«
»Ja.«

Da trifft es ihn ganz tief im Innern. Ein Gefühl, schwer zu beschreiben. Es ist als ob man nach einer langen, orientierungslosen, verstörenden Reise durch die Dunkelheit in die Heimat zurückkehrt. Nach Hause in die beruhigende Befreiung von bedeutungsloser Unruhe und Verwirrung. Es ist als würde er aufwachen.

♹ Ende
Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.