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Posts by: Chris

Utopia

Ein Archivar

Archivar ungezählter Gedanken. Die der Anwesenden an ihn werden gleich verblichen sein. * So wie seine Gestalt im Nebel auf dem Bahnsteig. Was tat er überhaupt hier? Er muss nicht im kalten Neonlicht auf Schienen reisen. Befremdlich. Die Abscheu steht ihm ins hagere Gesicht. Geschriebene Erinnerungen züchten sie im Auftrag des Archivs. Doch es ist zu spät oder früh, je nachdem von welcher Seite man kommt: Auf dem Weg vom Nachtleben in das heimische Delirium oder noch schlafend auf dem Weg zum Arbeitsplatz. Wie auch immer: die Anwesenden sind träge und er sollte nicht Teil ihrer Denkmuster sein. Nur ein stiller Beobachter, der in den Aufzeichnungen nicht auftaucht. Ein ungesehener Gast. Mit einer nervösen Handbewegung dreht er den Kopf zur Seite und streicht das fettige Haar glatt. Graublond — natürlich. Er muss hier verschwinden. Langsam ohne großes Gebaren. Möglichst unauffällig erhebt er sich von seinem Sitz, während der Wagon zum Stehen kommt. Der Drückknopf leuchtet erst grün, wenn der Zugführer die Türen frei gegeben hat. Einen unendlichen Moment muss er dort warten. Ein zur Salzsäule erstarrter kakifarbener Anzug. Darüber geworfen ein erst auf den zweiten Blick zu großer Mantel in abgetragenem grün. Es sieht aus wie ein kleines Zelt oder ein Leichentuch. Unbeweglich. Die gesammelten Gedanken an sich gepresst in einer abgewetzten, braunen Ledertasche. Für A4. Passgenau. Angestrengt bohrt sich sein starrer Blick durch die Scheibe in das Trüb. Ein Adler von Mann? Eher ein Geier.

Der Zug steht. Er kann nicht anders. Sieht sich doch noch einmal verstohlen um. Seine weit aufgerissenen Augen und Ohren durchleuchten alle Anwesenden. Gestaltgewordene Sensorstation. Hektisch presst er den Daumen auf den Impulsgeber. Die Automatik schwenkt die Tore auf und den Weg frei. Er entschwindet. Ein Schatten in der Nacht. Archivar ungezählter Gedanken. Die der Anwesenden an ihn werden gleich verblichen sein. *

Digitalnomadismus

Seit ich Neunzehnhundertirgendwasneunzig zum ersten Mal zusammen mit Dennis zur Cebit gepilgert bin, um »das Internet« zu sehen, könnte ich mich eigentlich als Digitalnomaden bezeichnen. Natürlich kannten wir diesen Begriff nicht, obwohl Vilém Flusser ihn viele Jahre zuvor bereits angedacht hatte, wahrscheinlich ohne seinerseits zu ahnen welche Ausmaße dies annehmen würde: So zogen Nico, die anderen und ich auch in diesem Jahr in den USA wie eine Karawane von Wlan zu Wlan — den virtuellen Wasserlöchern.

Wichtig ist Flusser dabei auch die Rationalisierung, also die Teilung (Ration) — Mitteilung, Aufteilung, Verteilung — von Informationen, in kleinste Einheiten — Rohdaten, bar jeder Sub- oder Objektivität — die nun wieder sinnstiftend zusammengesetzt — komponiert, komputiert — werden müssen. Das ist für ihn der Sand der digitalen Wüste durch den die Vagabunden ziehen. Für Flusser spielte sich der digitale Nomadismus vor allen Dingen zwischen Privatem und Öffentlichem ab. Mediale Vernetzung macht es möglich eigentlich öffentliche Ereignisse in die Privatheit zu überführen — ich schaue den Film zu Hause, nicht im Kino — so dass das Öffentliche mehr und mehr obsolet wird. Interessant finde ich dabei die Aussage, dass diese Entwicklung auch zum Beispiel Politik überflüssig macht. Gleichzeitig bleibt der Nutzer nicht nur Empfänger, sondern wird zum Sender, sobald die Verbindung reversibel oder bidirektional wird. Aus einem gebündelten oder faschistischen (lat. fascis = Bündel) System (Volksempfänger) wird ein Netzwerk. Der Digitalnomade muss seine vier Wände nicht verlassen um »überall« zu sein.

Diese Ausführungen rühren alle noch aus einer Zeit in der komputierende Netze vor allen Dingen an Leitungen, Terminals und Röhrenmonitore gebunden waren. Warum sollte man rausgehen, wenn man die komplette Welt zu Hause hat, aber unterwegs auf einen winzigen Ausschnitt (die Realität, das Jetzt?) beschränkt ist? Flusser fehlt in seinen Ausführungen die Mobilität der immerwährenden, reversiblen Verbindung — er hatte ja keine Ahnung: Durch Flatrates, Wlan-Hotspots, Laptops und Smartphones ist der digitale Nomade zum Wanderer in zwei Welten geworden. Das Private ersetzt die Öffentlichkeit nicht länger, sondern löst sich entweder in ihr auf und endet so in der sogenannten Postprivacy oder unterwandert die Öffentlichkeit in Form von kleinsten Privatsphäreblasen, die böse gesagt aus Desinteresse, Ignoranz und Abschottung bestehen. Sie äußern sich in Nachbarn, die man nicht kennt oder kennenlernen möchte, Kopfhörern und Musik, die einen akustischen Schutzwall bilden und dem Wegsehen auf der Straße. Soweit die Distopien, soweit die Extreme.

Doch viel interessanter, auch aktueller und heiß diskutiert ist die Durchmischung dieser beiden Ideen. Während mein reales Ich seine Privatsphäre auf der Straße ganz offensiv vor sich her trägt, kann mein digitales Ich sich vollkommen entkleiden — oder umgekehrt. Die Diskrepanz zwischen diesen beiden Persönlichkeiten ist für viele Realisten zu groß. Um es mit Flusser zu sagen: Ein Individuum ist genau wie ein Atom per Definition eine unteilbare Einheit, dennoch ist es der Wissenschaft gelungen Atome zu spalten — sie in noch kleinere Einheiten zu teilen, bar jeder Sub- und Objektivität. Wieso sollte es einem Menschen also nicht gestattet sein seine Individualität auf verschiedene Weisen pseudonym auszuleben, die im Folgenden von der Gesamtheit der Gesellschaft sinnstiftend komputiert werden müssen?

Keine Angst, keine Angst, Rosmarie!

Darf ich Ihnen meine Begleiterin vorstellen? Höhen- und Flugangst, Arachno- und Klaustrophobie — sie hat so viele Namen! Ihr Anblick jagt mir Schauer über den Rücken. Vor allen Dingen weil sie so wandlungsfähig ist. Sie ist immer da, wenn ich sie am Wenigsten erwarte. Ganz plötzlich habe ich Angst vor der Zukunft und Angst sie nicht zu erleben. Krieg, Not und Hunger. Ich habe Angst davor keinen Job zu bekommen, zu haben oder zu verlieren. Ich fürchte mich davor kein Geld zu haben, auf der Straße zu landen, meinen Stand und Status zu verlieren. Mit jeder Stufe, die ich erklimme, steigt auch sie und mit ihr die Furcht davor etwas falsch zu machen, zu stürzen, sich zu überschlagen und zu fallen. Deshalb plagen mich diese Alpträume in denen ich verschlafe, versage oder versauere. Eigentlich wollte ich die Welt sehen und sie verändern! Aber wie, bei all dem Ausland und dem ganzen Neuen? Wie, wenn einen die schlechten Neuigkeiten und der Ausländer in den Wahnsinn treiben? Wenn er — also der Ausländer — mir den Job streitig macht, solche komischen Sitten hat, sich ständig verdächtig verhält und diese Sachen isst.

Sowieso: Essen! Fürchterlich: es gammelt das Fleisch, es gent das Gemüse. Maul und Klauen sind verseucht. Schwein und Vogel haben die Grippe, die Rinder werden wahnsinnig, die Meere leergefischt und wenn ich Tuna auf die Pizza will sterben die Delphine! Alles kontaminiert und pestizidiert. Sogar das Schwarze an der Bratwurst ist voller Krebs. Vor allen Dingen der Krebs! Er lauert überall: in der Brust, in der Lunge, im Hoden und sogar im Meer. Ich habe Angst davor ins Wasser zu gehen. Wer will schon von Haien gefressen oder von Riesenkraken in die Tiefe gezogen werden? Wer will sich in Schlingpflanzen verheddern, auf giftige Seeigel treten, von Wellen verschluckt oder von der Strömung abgetrieben werden?

Sowieso: Abtreiben! Ich hätte so gern eine Familie, aber eigentlich doch auch Karriere im Beruf. Ich hätte so gern Kinder, aber in »Eltern« steckt ja schon »versagen«. Entweder kommen meine lieben Kleinen später nicht zurecht oder tanzen mir auf der Nase herum. Ich fürchte mich vor diesem Terror! Habe Angst von dem Molukken in die Luft gesprengt oder erdrosselt oder ausgeraubt oder wenigstens zusammengeschlagen zu werden. Und wenn der es nicht macht, dann bestimmt der kommunistische Neonazihooligan, der mich für den Molukken hält.

Sowieso: Verwechseln! Ich fürchte mich davor die falsche Partnerin zu finden oder überhaupt keine abzubekommen. Ich habe Angst davor schlecht zu riechen und verschanze mich hinter dem olfaktorischen Schutzschirm aus Shampoo, Deo, Parfum, Creme, Zahnpasta, Kaugummi und Pfefferminz. Immer mehr, damit keiner meinen beißenden, kalten Angstschweiß bemerkt. Ich kann mich inzwischen gar nicht mehr selber riechen — wäre doch auch schlimm, wenn mir die Natur kommt.

Sowieso: Natur! Wie die kommt! Erdbeben und Tsunamis — ja, wenn das alles wäre! Typhoone, Hurrikane und Orkane. Mir ist kalt! Blitzeis, Dauerfrost, Hagelkörner groß wie Straußeneier! Mit jedem Unwetter steigt meine Besorgnis um das Klima. Es verändert sich. Nein, wir verändern es und erkennen es dann nicht wieder. Mir ist heiß! Die Polkappen schmelzen. Das Ozonloch wird größer. Wenn wir Pech haben stürzt ein riesiger Komet auf den Planeten und sorgt für eine neue Eiszeit, falls wir nicht vorher von Außerirdischen entführt und versklavt werden. So male ich mir jeden Tag eine neue Grausamkeit aus, die mich rund um die Uhr begleitet. Vampire und Agenten, Zombies und Apokalypse! Wahlweise und in Kombination. Vampiragenten und Zombieapokalypse — stellen Sie sich das mal vor! Wenn ich dann soweit bin, kommt es vor, dass ich Angst davor krieg, dass uns etwas geschieht, dass man den verliert, den man liebt, dass es das wirklich gibt. Mitten in der Nacht werd ich wach und bin Schweiß gebadet, dreh mich um und seh wie die Angst neben mir ganz friedlich atmet. Ich rüttle sie wach. Sie erschrickt, aber ich kann sie beruhigen, denn eins ist mir inzwischen klar:

»Ich liebe doch nur Dich, Rosmarie!«

Prachtnelke in Full-HD!

Sie sagen »Arigatō« wie wir sagen »Arigatō«.

Beziehungskasten

Nachdem mich Daniela und Caro bei Facebook (passend zum Thema! :)) auf ihr Diplomprojekt Netzknistern aufmerksam gemacht haben, das sich mit Social Media und Beziehungen im Web beschäftigt, habe ich mir Gephi auch mal näher angeschaut. Gephi baut Graphen. Die beiden haben damit ihre Facebook-Freundeskreis visualisiert und ich wollte mir natürlich meinen auch mal anschauen. Also kurz gesucht und diese Anleitung bei Slideshare gefunden. Leider funktioniert die dort genutzte App Netvizz zur Zeit nicht (Server down?!), aber relativ schnell fand sich NameGenWeb als Alternative. GDF-Datei extrahiert (!) und mit wenigen Klicks aufgewertet — mit beeindruckenden Ergebnissen. Es ist wirklich beachtlich mit wie wenig Daten, aber der richtigen Aufbereitung, so einem grauen Wollknäuel zig Informationen zu entlocken sind. (Bonuspunkte für alle, die sich im Bild oben wiederfinden ;))

Offener Brief

Sehr geehrter Herr Döpfner,

in Ihrem Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagen Sie: »Mir scheint es, als sei die Digitalisierung noch nicht von jedem verstanden.« Dem kann ich nur zustimmen. Doch lassen Sie mich ein wenig ausholen und erläutern warum auch Sie leider zu eben diesem Personenkreis der »Nichtversteher« gezählt werden müssen.

Schauen Sie: Ich bin jetzt beschauliche siebenundzwanzig Jahre jung. Ich bin mit dem Gameboy und Plastiktransformers aufgewachsen. Ich habe Matrix schon 1999 — über 56k-Modem! — aus dem Internet geladen und in Kleinstauflösung verschlungen. Ich habe mein Abo der PC-Games mit 16 gekündigt, weil ich alle Informationen über Spiele und Hardware schneller, besser und günstiger aus dem Netz ziehen konnte. Ich habe 348 RSS-Feeds, aber keine einzige Tageszeitung abonniert. Ich bin also in vielen Belangen ein Kind des Internets und ich bin von der Entwicklung jeden Tag aufs Neue total begeistert. Bis, ja, bis diese Nichtversteher auf den Plan treten und in Ihrem Unverständnis an Dingen rütteln, die Sie a) größtenteils sowieso nicht mehr aufhalten können und b) sich gegen die Leute stellen, die potentielle Kunden sein könnten. Beides wird aus einem Selbstverständnis heraus geboren, das das eigene Konzept als unfehlbar darstellt, niemals in Frage stellt und oftmals jeglichen Fortschritt verneint. Lassen Sie sich versichern: Der Fortschritt passiert zur Zeit so schnell, dass ich inzwischen einen Großteil meiner Science-Fiction- als Geschichtsbücher herausgeben könnte. Fortschritt verändert Gewohnheiten, Fortschritt verändert Industrien. Das war auch 2009 schon absehbar.

Bei all diesem Entwicklungen geht es dem Konsumenten oftmals nicht um die sogenannte Gratiskultur, wie man eindrucksvoll am Beispiel von Apples iTunes-Store begutachten kann. Die musikalischen Raubkopierer der Zeiten von Kazaa und Co. suchten vor allen Dingen nach einer gangbaren Lösung schnell, einfach und bequem ihre MP3-Player zu bespielen. Das ihnen dabei die monetäre Komponente entgegenkam ist natürlich nicht zu leugnen, doch sie spiegelt vor allen Dingen auch die Unverhältnismäßigkeit zwischen Kosten und Nutzen für den Konsumenten wieder. Warum sollte ich für eine komplette CD bezahlen, wenn ich den Datenträger nur einmal nutze, um die Daten zu digitalisieren? Wieso sollte ich ein ganzes Album kaufen, wenn mich nur maximal drei Tracks wirklich interessieren? (Hier kann man auch als Zeitung zwischen den Zeilen lesen …) Inzwischen rächt sich, dass die Musikindustrie das digitale Geschäft viele Jahre lang verteufelte. Den Verlagen wird es ähnlich gehen. Auch wenn Sie diese Schlacht gewinnen und die Tagesschau eines der besten Angebote auf dem iPad einstellen muss, wird es andere geben, die dort nachfolgen und vielleicht nicht durch einen in die Jahre gekommenen Rundfunkstaatsvertrag an fadenscheinige Paragraphen gebunden ist. Für mich persönlich, der keinen Fernseher besitzt, eher sporadisch Radio hört und seine Informationen fast ausschließlich aus dem Netz bezieht, ist diese App ein Lichtblick! Endlich habe ich das Gefühl meine Gebühren (Natürlich zahl ich!) nicht umsonst gelatzt zu haben.

Doch kommen wir zurück zu Ihrem Unverständnis, denn Sie scheinen etwas sehr fundamentales der digitalen Darstellung noch immer nicht realisiert zu haben: Das Medium ist egal. Es gibt nur noch »die Nachricht«, die von den Empfangsgeräten größtenteils unabhängig ist. Wenn die kostenlose Tagesschau-App verschwunden ist, dann öffne ich eben die kostenlosen Angebote der öffentlich-rechtlichen in meinem mobilen Browser. Das ist zwar umständlicher, aber auch in ihrer Logik gar nicht so abwegig. Vielleicht wird es wirklich Zeit den Qualitätsjournalismus mal wieder zu leben, anstatt ihn nur in Interviews wie eine heilige Monstranz vor sich her zu tragen.

In diesem Zusammenhang frage ich mich, wie die privaten Fernsehsender so lange überleben konnten, schließlich hatten sie schon immer mit den öffentlich-rechtlichen zu kämpfen. Bei Premiere/Sky funktioniert die Paywall auch nur auf Grund gewisser Exklusivität. Alle anderen sind ebenso frei empfangbar wie ARD und ZDF. Finanzieren sich die großen deutschen Zeitungen nicht auch hauptsächlich über Werbung? Davon ab bin ich im Übrigen gern bereit Inhalte, die mir weiter geholfen haben, mit einem »Trinkgeld« zu belohnen und tue dies — wo möglich — auch schon per flattr. Leider sind sich die großen Verlage anscheinend immer noch zu fein für solche »digitalen Almosen«, denn One-Click-Payments habe ich auch in ihren Angeboten noch unter keinem Artikel gefunden. Schade. Warum verpulvern Sie ihr kostbares Geld um alte Modelle per Gericht zu konservieren anstatt es in neue Ideen zu investieren? Oder mit anderen Worten:

Lieber Herr Döpfner schneiden Sie sich besser eine Scheibe von der Tagesschau-App ab anstatt sie zur Hölle zu jagen.

Christopher Reinbothe

Dipl. Kommunikationsdesigner
@phneutral
DE, NRW, Wuppertal

THE END

Jedes Ende ist auch ein Anfang sagt man und es gibt nichts, das man ewig haben kann.